Text: Wilfried Kaets
Der Titel meiner Komposition lässt sich übersetzen mit „Johannistag in Uuejärve“. Uuejärve ist ein kleines Anwesen im Outback Estlands nahe der russischen Grenze zu St. Petersburg.
Inspiriert ist die Komposition für den RochusChor von zahlreichen Fortbildungen und Begegnungen mit Komponisten und ChorleiterInnen aus Lettland und Estland sowie von Studienreisen nach Lettland und Estland, wo ich auch viele Bild- und Ton-Aufnahmen in der Natur gemacht, KünstlerInnen getroffen, bei Konzerten mitgewirkt und Volksfeste besucht habe. Zum einen in der Nähe von Körvemaa anläßlich des Johannis-Tages, vergleichbar mit der Sommersonnenwende, wo allerorten Dorffeste mit Musik und viel Tanz um ein großes Feuer gefeiert werden, und zum anderen in der Hauptstadt Tallin im Rahmen des großen Sängerfestes.
Zur Uraufführung
"Jaanipäev Uuejärve"
für Chor, Orchester, Naturklänge und Zuspielungen
von Wilfried Kaets (*1961)
Dirigent: Andie Ruster
1. Teil: Natur: Wasser – Holz – Luft – Vögel - Elfengesang
2. Teil: Zum Tanze da geht ein Mädel
3. Teil: Tuljak – Polka
4. Teil: Kaunimad laulud (Die schönsten Lieder...)
Für viele Menschen im Baltikum ist die Natur dabei eine Kathedrale Gottes, der sie sich stark verbunden fühlen. Die Volksmusik ist in der DNA der Balten zutiefst verankert, es heißt, dass es so viele Volkslieder gibt, das jeder Este sein eigenes hat - somit ca. 1,4 Millionen.
Sie wissen seit langen Zeiten der Unterdrückung, wie fragil Frieden ist. Die Erfahrung, das Musik den Unterschied machen kann, brachte den Menschen Mut und am Ende die Freiheit angesichts existentieller Bedrohung.
Dies nicht zuletzt während der jahrzehntelangen brutalen Okkupation durch die Russen, die die Landessprache verboten, Menschen enteigneten, in Massen zwangsumsiedelten vor allem Richtung Sibirien und dafür aus vielen vor allem entlegenen Landesteilen Russlands Menschen zwangsansiedelten um die ethnischen Verbindungen zugunsten einer konsequenten Russifierzung zu eliminieren und die originären EinwohnerInnen konsequent auf allen Ebenen des Lebens benachteiligten. Selbst die seit Mitte des vorletzten Jahrhunderts regelmäßig stattfindenden riesigen Sänger- und Tanzfeste wurden ebenfalls stark reguliert und als sozialistische Propagandaschau inszeniert.
Als aber die Russen z.B. das Lied „Kaunimad Laulud“ (übersetzt: „Die schönsten Lieder widme ich dir, geliebte Heimat, mein blühendes Estland“) 1969 beim Sängerfest verbieten wollten, hat der 20.000 Menschen starke Chor es doch einfach gesungen: ein bemerkenswertes Moment von Zivilcourage mit dem Mittel der Musik: 80.000 singende Menschen beim Sängerfest, die kann man nicht alle verhaften oder erschießen. Das alte Lied ist der Schlussteil meiner Komposition.
Vertiefendes Material
Video 1989: Der baltische Weg (YouTube)
Hätte nicht ein einzelner Kameramann aus dem Hubschrauber heraus die Demonstration seinerzeit aufgezeichnet, wüssten wir noch weniger von dem Mut und der unglaublichen Inititative. Der Pilot wurde danach sofort von den Russen verhaftet.
Trailer zur Dokumentation The Singing Revolution (YouTube)
Die Singende Revolution (Wikipedia)
Infos über die Bedeutung von Musik, die eine zentrale Rolle im Freiheitskampf des estnischen Volks spielte.
Estland im Aufbruch - eine sowjetische Ostseerepublik sucht ihren Weg (YouTube)
Eine längere sehr informative - auch politisch historisch - Dokumentation.
Fotos und ein kleines Zeitraffervideo von meiner letzten Reise nach Estland (Dropbox)
Während wir uns im Westen Ende der 1980er Jahre politisch/gesellschaftlich fast nur um uns selbst gekümmert haben entstand in den baltischen Ländern ausgehend von Estland eine mindestens der Öffnungsbewegung in der DDR vergleichbare Initiative, die nach und nach alle baltischen Länder umfasste.
Von uns im Grunde unbemerkt, haben die Balten sich von den Russen losgelöst über das Singen: mit einer mehr als 600 Kilometer langen singenden Menschenkette. Am 23. August 1989 (dem 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes / mit Geheimvertragsanhang zur Aufteilung des Baltikums und Polens), reichten sich rund 2 Millionen Menschen die Hände über alle drei baltischen Staaten hinweg von Vilnius über Riga bis Tallin - die längste Menschenkette der Geschichte und sie protestierten singend und setzten ein deutliches Zeichen an Russland: Menschen, die singen haben keine Angst !
Es gibt Bilder und Berichte, wie friedlich singende Menschen russischen Soldaten Auge in Auge gegenüberstanden; junge Soldaten, eigens aus Russland herbeitransportiert, um die „terroristischen Aufstände" gewaltsam zu brechen, die sich dann aber nicht zu schießen trauten (ganz anders als etwa 1994 in Peking, wo das Militär Tausende Demonstranten erschießen ließ und die Demokratiebewegung so im Keim erstickte).
Insofern sind auch die von mir als Vorlage ausgewählten Volksliedtexte keineswegs nur „leichtgewichtige Folklore“ (auch das „Zum Tanze da geht ein Mädel“ stammt übrigens aus dem mittelalterlichen Nordeuropa) sondern belegen die existentielle Bedeutung von solcher Musik für Menschen sogar in Extremsituationen von Trauer, Ohnmacht und Mutlosigkeit angesichts übermächtigen Schmerzes und fügen sich damit gut in das Programm der Konzerte ein.
Herzlich Willkommen
Mitwirkende
Dank an Förderer und Möglichmacher
Das Projekt
Karl Jenkins "Stabat Mater"
Bassem Hawar "Tigris und Euphrat"
Wilfried Kaets "Jaanipaev Uuejärve"
Musikalische Leitung
Neues rheinisches Kammerorchester
Orientalisches Nouruz Ensemble
Karin Wöpking: Mezzosopran
Sabina Krauze: Orientalischer Gesang
RochusChor Köln-Bickendorf